Die Baustelle.

Jonas Linnebank

Seine Freunde in Berlin würden schon feiern, während er noch da saß und Tagebuch schrieb. Würden sie über ihn reden? Was würden sie erzählen? Vielleicht würden sie ihn wie sein wächsernes Ebenbild beschreiben, das bei ihm in der Berliner Wohnung stand: Lebemann, Abenteurer, Mann von Welt. Die meisten Besucher mochten seine extrovertierte Art. Entsprechend hatte er seinen Wachs-Doppelgänger gekleidet,   mit dem Säbel im Stoffgürtel und dem Tropenhut auf dem Haupt, umgeben von den exotischen Errungenschaften, in denen die meisten Gäste nicht die touristische Massenware von Souvenierhändlern erkannten, sondern Kostbarkeiten sahen. Wer wollte schon ahnen, dass die glänzende Tröte, zum Beispiel, nur aus Kupfer war, eine Replica, die er von einem hässlichen Hindu geschenkt bekommen hatte? Der hatte ihm seinerseits stolz eine vom Kaiser persönlich signierte Fotographie unter die Nase gehalten, von der jener wiederum nicht wusste, dass es sich dabein nur eines von vielen tausenden Exemplaren handelte.

Es freute ihn, wenn Kollegen, die ähnlich weit gereist waren wie er, mit ignoranten Gästen darüber fachsimpelten, zu welchem Zweck dieser Gegenstand, für welchen Ritus wohl jener gebraucht worden war. Trafen seine Blicke auf diejenigen der Mitwissenden, so zwinkerte er ihnen zu und sie grinsten ironisch zurück, und beiden Parteien war klar, dass da mal wieder jemand zu viele fantastische Schundromane über die Neue Welt gelesen hatte. 

Er unterbrach sich. Zurück zum Tagebuch. Die letzten Tage auf See waren stürmisch gewesen. Heute gab es endlich wieder die Möglichkeit in Ruhe das Tintenfass aufzustellen und Notizen zu machen. Er dachte an den leeren Laderaum dieses Schiffes und den tiefliegenden Kiel des anderen, das sich gerade auf dem Weg in Richtung Heimat befand. Zum Glück kümmerte sich der Papá um die logistische und finanzielle Abwicklung. Die ethnologische Auswertung würde er später anhand seiner Einträge selbst besorgen. Er hatte die passenden Papiere schon mitgeschickt. 

Jetzt musste er noch weiter. Es galt keine Zeit zu verlieren. Er wusste, dass Neues nur so lange als ungewohnt empfunden wurde, bis es selbst Teil des Alltags geworden war. Sobald sie zur Massenware verkommen sein würden, ließe sich aus all den Stücken, für die die leeren Transportboxen unter Deck bestimmt waren, weniger Ertrag erzielen, ganz egal, ob es sich dabei um ideelle Werte wie seinen persönlichen Ruhm handelte oder um die einfachen, handfesten, den schnöden, aber leider nötigen Mammon. Es ging um Schnelligkeit, mit der die Konkurrenz auszustechen war, und um Menge, um die schiere Quantität. Er wusste das. Und er war bereit, dafür Opfer in Kauf zu nehmen: „Was ich mir nicht kaufen kann, das nehme ich mir – irgendwie immer“ war sein von Vielen geliebter Dinnergag, zu dem natürlich auch er schmunzelte – stets wissend, wie brutal ernst es ihm mit dieser Angelegenheit war. 

Ja, es galt an die Zukunft zu denken. Noch war er  körperlich tauglich und unversehrt, aber was würde in zehn Jahren sein? Was wäre, wenn ihm etwas zustieße, er sich verletzte, wenn er sich mit irgendeiner unbekannten Tropenkrankheit ansteckte, mit der die europäische Medizin noch nichts anfangen konnte? Wenn er so ein Krüppel würde, wie der auf dem Schiff umherschlurfende Maat, der ihm hinterherzuschnüffeln schien und ihm immer genau dann, wenn er gerade überhaupt keine Lust auf Gespräche hatte, Belanglosigkeiten erzählte, wie dass er selbst mal ein wissenschaftliches Seminar besucht habe und sich ein bisschen auskenne in der Thematik. Was erlaubte sich dieser Kerl? Um sich endgültig von dieser Art Mensch abzugrenzen, brauchte er recht bald den Doktor, besser noch die Habilitation. Die Aufnahme in die Berliner Gesellschaft war ein guter Anfang, aber es brauchte mehr: Mehr Objekte, mehr Notizen, Ahnungen, Beobachtungen, Statistiken und Tabellen, denn nur Wissen schafft Wissenschaft. Ansonsten blieb man irgendwann im Dazwischen hängen, blieb für immer gescheiterter Student, ehemaliger Globetrotter. 

Er war froh, sich den hinkenden Maat und seine gescheiterte Existenz im nächsten Hafen vom Leibe halten zu können. Trotz der harten Arbeit gab es noch etwas zu erleben. Er war schließlich im Krieg gewesen, zwei mal, in Frankreich, im Orient, und wie jeder Soldat, wie jeder tüchtige Seemann, freute er sich jetzt schon auf die Frauenzimmer, die schwarzen, braunen und gelben, die es in Europa so nicht gab. Da gab es nur die gewöhnlichen Mädchen und davon hatte er genug gehabt, beinahe zu viele gekannt, vor allem in Berlin. Man war ein Esel in Europa zu leben, teuer und hatte absolut nichts. Wer würde dieser Behauptung ernsthaft widersprechen wollen? 

Er brauchte etwas Besonderes für seine Sammlung. Die Mädchen aus Berlin sollten in Berlin bleiben und die Blechsouvenirs an seinen Wänden bestaunen. Er wollte die besonderen, perlenbehangenden, in Kostümen, die noch nie jemand gesehen hatte, geschminkt und tätowiert wie es keine Europäerin war. Er wollte keine Massenware. Ihm fiel auf, dass die Frauen nicht viel anders waren als die übrigen Teile seiner Sammlung: Manche kostbarer und besser als andere, manche Ramschware für billig-neureiche Touristen. Wenngleich seine Frau das nicht verstand, aber wie sollte sie auch? Das war wohl kaum ihre Aufgabe.

Das Holz des Schiffes knarzte. Der Seegang wurde anscheinend wieder heftiger. Er dachte kurz daran, endlich sein Testament zu schreiben, da es ein paar Dinge gab, die für ihn und seine Nachwelt wichtig waren, aber er verwarf den Gedanken. Er schrieb: „Der Löwe hat wieder Blut geleckt“ und fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen.

Jonas Linnebank, geb. 1989 in Werl, lebt und schreibt in Köln. Er hat Germanistik und Anglistik in Köln und Salerno studiert und danach als DaZ-Dozent in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Es ist Mitbegründer, Herausgeber und Redakteur der Kölner Literaturzeitschrift (www.kliteratur.de) und außerdem Teil des Kurator*innen-Teams des Europäischen Literaturfestivals Köln Kalk (www.elk-festival.com). In der parasitenpresse ist 2022 sein Lyrikdebüt «verlassene Hunde» erschienen.

Kontakt: jolin@posteo.de

Dieser Artikel ist Teil der Publikation: “Guide Zur Dauerausstellung Des Rautenstrauch-Joest-Museums”, Weitere Infos und die vollständige Publikation finden Sie hier: Guide Zur Dauerausstellung Des Rautenstrauch-Joest-Museums

Die Baustelle.