Carla de Andrade Hurst, Von Haus aus bin ich ausgebildete Bühnentänzerin, Dramaturgin, Medienkulturwissenschaftlerin, Romanistin und Pädagogin. Ich bin seit August 2019 als Diversity Managerin im Rautenstrauch-Joest-Museum angestellt – dem einzigen ethnografischen Museum in NRW – damit Teil des 360° Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft, einem 4-jährigen Programm der Kulturstiftung des Bundes (KSB). Die KSB hat bundesweit in 39 Kulturinstitutionen insgesamt 49 sog. Diversity Agent/Managerinnen eingesetzt, finanziert und evaluiert. Am Programm sind Museen, Bibliotheken, Theater, Musikschulen beteiligt. Ich bin eine von zwei Diversity Mangerinnen im RJM. Wir haben uns bewusst als Tandem beworben und die Stelle als Tandem angetreten. Aus berechtigten Gründen der selfcare, denn es stellte sich heraus, dass wir die ersten Women of Colour in der akademischen Ebene des RJM waren, zusammen mit der neuen Direktorin Nanette Snoep, die ihren Dienst ½ Jahr vor uns antrat und der Referentin der Direktorin, die ½ Jahr nach uns kam. Zusätzlich arbeite ich als Moderatorin, Seminarleiterin und Speakerin im Rahmen von Veranstaltungen zum Thema Dekolonisierung von Bildungs- und Kulturinstitutionen und als Awareness- und Empowerment-Begleiterin für soziokulturelle Events.
Frage: Diversity in Institutionen, das ist ein Themenschwerpunkt, ein Prozess, ein Motto, auf jeden Fall ist es nicht aus aktuellen Diskussionen rund um die Öffnung von Institutionen zu denken. Was verstehst Du darunter?
‚Diversity‘ macht nach meiner mehrjährigen Erfahrung keinen Sinn, wenn es als marketing-orientierten und neoliberalen Aspekten des audience developments betrachtet und verstanden wird. Ich plädiere für eine „Critical Diversity“ und schließe mich hier der folgenden Definition von Diversity Arts Culture, Berlin an.
„Im Gegensatz zu einem allgemeinen Diversitätsbegriff, in dem sich alle Menschen irgendwie voneinander unterscheiden, z.B. weil sie unterschiedliche Haarfarben und Schuhgrößen haben, fokussiert unser diskriminierungskritisches Verständnis von Diversität genau die Unterschiede, die zu Diskriminierung führen.“
… und der meiner Kollegin Aurora Rodonò. Besser könnte ich es selbst nicht ausdrücken.
„Diversity ist eine Perspektive, eine Form der Kritik und Intervention, bei der es darum geht, Strukturen und Prozesse der Marginalisierung zu verlernen und Maßnahmen und eine Praxis zu erproben und zu implementieren, die die Einrichtung im diskriminierungskritischen und rassismuskritischen Sinne umbauen, und zwar auf der Ebene der Strukturen, der Programme, des Personals und der Methoden. Dafür braucht es eine Haltung, eine Positionierung, eine Parteinahme entlang der Kategorien soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, weshalb Diversity auch eine politische Arbeit ist.“
… und ich berufe mich darüber hinaus auf die Definition von Cedric Herring und Loren Henderson, aus deren Artikel „From Affirmative Action to Diversity: Toward a Critical Diversity Perspective“.
„kritische Diversität ist eine Abkehr von der “farbenblinden Vielfalt” und der “segregierten Vielfalt” hin zu einer “kritischen Vielfalt”, die alle Formen von sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Schichtung untersucht, die sich um Fragen der Differenz drehen. Es werden konkrete Strategien dafür aufgezeigt: (1) Güter und Ressourcen gezielt für ausgegrenzte Menschen bereitstellen; (2) für einen umfassenden Begriff von Vielfalt eintreten, aber Verteilungsgerechtigkeit anstreben, die dazu dient, “benachteiligte” Gruppen zu unterstützen; (3) Ressourcen von privilegierten Gruppen abziehen, insbesondere wenn man sich auf die Rhetorik der Vielfalt beruft; (4) Vielfalt wieder mit positiven Maßnahmen und der Notwendigkeit verbinden, historische und anhaltende rassistische und geschlechtsspezifische Diskriminierung, Segregation und Voreingenommenheit auszugleichen; (5) die Menschen daran erinnern, dass Vielfalt mit der Einhaltung von Gesetzen vereinbar ist; […].“
Eine Diversifizierung des Personals (Referentinnen, Kuratorinnen, Direktion, Administration, Technik, Praktikantinnen, Veranstaltungsmanagerinnen) kann auf Dauer nur erfolgreich erfolgen, wenn Mitarbeitende of Colour nicht mehr nur in nachgestellten Positionen und prekären, d.h. befristeten Anstellungsverhältnissen beschäftigt werden, d.h. wenn die Diversifizierung des Personals als nachhaltige Maßnahme etabliert wird. Von entscheidender Bedeutung ist zudem, dass das amerikanische erweiterte Modell von Diversity, das DEIB zur Anwendung kommt, damit BIPoC auch ankommen können, willkommen geheißen und strukturell als ‚fester Bestandteil‘ im Team verstanden werden.
Expanded Diversity Model (DEIB)
DEIB at the Dance Party – DEIB auf eine Tanzparty bezogen
- Diversity: representations of difference
- Equity: inviting evereyone to the party
- Inclusion: being a part of planning the party and being asked to dance
- Belonging: feeling safe, comfortable and welcomed at the party, feeling uninhibited in your requests, enjoying the music and dance, having a sense of belonging
- Vielfalt: Darstellungen von Unterschieden
- Gleichberechtigung: alle zur Party einladen
- Inklusion: Teil der Partyplanung sein und zum Tanzen aufgefordert werden
- Zugehörigkeit: sich auf der Party sicher, wohl und willkommen fühlen, keine Hemmungen haben, die Musik und den Tanz zu genießen, ein Gefühl der Zugehörigkeit haben
Frage: Welche Schritte sind aus Deiner Perspektive einer diversitätsbewussten Öffnung von Institutionen notwendig, welche hilfreich, welche nicht so hilfreich, und welche (überhaupt) nicht sinnvoll?
- Notwendig: Eine weite Öffnung der Türen für Menschen marginalisierter Gruppen, die bisher nicht in so eine Institution kamen; und die Tür offenhalten, sobald eine partielle Öffnung erfolgt ist. Räume, Willkommensstrukturen anbieten und etablieren. Nachhaltige Kooperationen, Kurationen (informelle Kuratorinnen) einplanen, gfs. feste Anstellungen in Aussicht stellen. Sowie eine fortwährende prozesshafte Sensibilisierung der weißen Mitarbeitenden, der Mehrheitsgesellschaft und Antirassismus-Trainings, incl. critical whiteness anbieten. Für BIPoC Mitarbeitende, fortwährend Empowerment und care-Strukturen anbieten, zusätzlich das DEIB Modells anwenden.
- Hilfreich: Begleitung des Veränderungsprozesses durch Coaching für diversitätsorientierte und machtkritische Organisations- und Personalentwicklung. nicht so hilfreich: Ausstellungs-, Veranstaltungsformate in dem weiße Menschen aus dem sogenannten globalen Norden über die sogenannten ‚Anderen‘ aus dem sog. globalen Süden sprechen, Festhalten an Narrativen des ‚Otherings‘, der ‚Veranderung‘; Formate also, in denen über Inhalte gesprochen wird, zu denen kein situiertes Wissen vorhanden ist, keine Zeugin als Referentin anwesend ist.
- (überhaupt) nicht sinnvoll: Jahrmarkt der Kulturen, bunte Vielfaltsflaggen vor dem Haus und Beteuerungen, dass „wir ja so schön bunt und doch alle Menschen gleich sind“, (internationale) Diversitäts-Tage und entsprechende Posts in den Sozialen Medien, Regional-Tage.
Frage: Aus Deinen Erfahrungen, Wissen, Expertise heraus: Welche Lern- und Veränderungsprozesse wurden in Bezug auf die diversitätsbewussten Öffnung von Institutionen angestoßen?Welche Ideen wirken nachhaltig und welche Strategien haben sich als erfolgreich für die Förderung von Partizipation und Diversität erwiesen?
Angestoßen: das vage Wissen und Bewusstsein darüber, dass man/frau sich mit dem Thema ‚Diversität‘ beschäftigen muss, dass es nicht mehr ignoriert oder vernachlässigt werden kann. Das erlaubt noch keine Aussage darüber, wie tief und ernsthaft man/frau bereit ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Nachhaltig wirkende Ideen und Strategien, die sich erfolgreich für die Förderung von Partizipation und Diversität erwiesen:
- diversitätsorientierte Personalentwicklung, incl. gerechter chancengleicher Ausschreibungs-, Bewerbungs-, Einstellungs-Verfahren
- unbefristete (entfristete) Einstellung von BIPoC auf allen Ebenen
- Radikale Akzeptanz und radikale Gerechtigkeit gegenüber Personen marginalisierter Gruppen
- ‚Belonging‘ und Care Strukturen für BIPoC Mitarbeitende
- Critical Whiteness für weiße MAs
- Begleitung der Change Prozesse durch diversitätsorientierte, machtkritische Organisationsentwicklung (OE), Supervision, Coaching, o. ä.
- Beiräte, Critical Friends (Diaspora, Jugend, Queers, etc.)
- Informelle Kuratorinnen und Kooperationspartnerinnen
- Carte Blanches, eigene Autorinnen-, eigene Kuratorinnenschaft für Partner -Künstlerinnen, Akteurinnen, Aktivist*innen
- Fokus auf Wünsche und Bedarfe der Menschen der Diaspora, marginalisierter Gruppen, BIPoC und nicht auf die Institution = Die Menschen stehen im Vordergrund und nicht das Überleben der Institution.
Frage: Welche Strategie für einer diversitätsbewussten Öffnung von Institutionen würdest Du als nachhaltig bezeichnen, und welche nicht? Was ist für eine nachhaltige Diversitätspolitik notwenig?
Diversitätspolitik im Sinne einer Symbolpolitik, die eine bunte Vielfalt wie auf einem ‚Jahrmarkt der Kulturen‘ propagiert oder marketingtechnisch nur ein sog. audience development beabsichtigt, d.h. Besucher*innenzahlen erweitern will, ist sicherlich nicht nachhaltig. Ohne den Aspekt der Dekolonisierung – jeweils übersetzt auf die jeweilige Institution – ist eine diversitätsbewusste Öffnung von Institutionen schwer umsetzbar. Die Diversifizierung ist darin nur ein Element. Siehe dazu auch folgendes Zitat des Autors, Storytellers und Kurators Olivier Marboeuf.
„It’s clear that the great Western institutions that are ‚decolonizing‘ are doing it to maintain control of what is shown and what is not, to preserve their centrality and continue to be the masters of history and the agenda. […] Paradoxically, what the institutions that are decolonizing want is to prevent decolonization from happening without them. This is the only viable solution for them if they want to remain center-stage.“ (Olivier Marboeuf)
“Es ist klar, dass die großen westlichen Institutionen, die ‘dekolonisieren’, dies tun, um die Kontrolle darüber zu behalten, was gezeigt wird und was nicht, um ihre zentrale Stellung zu bewahren und weiterhin die Herren der Geschichte und der Agenda zu sein. […] Paradoxerweise wollen die Institutionen, die dekolonisieren, verhindern, dass die Dekolonisierung ohne sie stattfindet. Das ist für sie die einzig gangbare Lösung, wenn sie weiterhin im Mittelpunkt stehen wollen.”
Für eine nachhaltige und ernst gemeinte Öffnung ist eine Haltung und Politik entlang der ‚Critical Diversity‘ Maßnahmen (siehe 1. Frage) notwendig.
Frage: Was würdest Du Einzelpersonen, Initiativen, Organisationen, die von außen an Institutionen herantreten bzw. mit diesen kooperieren raten, wenn sie als „Vielfaltsträger:innen“ hinzugezogen werden (in Bezug auf Ressourcen, Haltung, Tokenism, PowerSharing)?
Ich würde ihnen raten, aufzupassen, sehr achtsam und nur unter bestimmten selbstermächtigten Bedingungen eine solche Kooperation einzugehen
• alle Methoden des self-care und wellbeing in Anschlag zu bringen,
• sich nicht als einzelne Person auf eine solche Kooperation einzulassen, sondern nur im Kollektiv oder mindestens zu zweit, aus Gründen der selfcare
• darauf zu achten, sich weder politisch, noch ideologisch instrumentalisieren zu lassen (Stichwort: Tokenism)
• Dafür sorgen, dass eine frühzeitige Einbindung in das Projekt gewährleistet ist
• Ich würde ihnen raten, die Positionierung der Organisation in Bezug auf Machtkritik, politischer Ausrichtung, ethnischer – und Gender Bewusstheit abzufragen, in Form von Code of Conducts, Hausordnung, Awareness-Konzept, Care-Struktur (z.B. safer spaces, Support Räume)
• abfragen, ob die Methode des DEIB im Haus angewendet wird
• abfragen, ob ausreichend Ressourcen vorgesehen sind bzgl. Honoraren, Supervison, PowerSharing, Awareness, Support, Empowerment
• abfragen, ob der Kommunikations- und Informationsfluss gewährleistet ist
• abfragen, ob gleiche Augenhöhe im Sinne von Mitspracherecht, Entscheidungsgewalt, Input gewährleistet ist
• sicherstellen, dass gleiche Credits und Sichtbarkeit geplant sind
Frage: Wenn Du die Macht und die Ressourcen hättest, eine Institution Deiner Wahl einem diversitätsbewussten Öffnungsprozess zu unterziehen, was würdest Du tun?
Im RJM würde ich die neue ICOM Definition von 2022 von Museen fest in die Strategie, das Leitbild des Hauses einschreiben und dem Team vermitteln, denn sie beinhaltet den Auftrag erreichbar und inklusiv zu sein sowie Diversität und Nachhaltigkeit zu fördern, Communities zu beteiligen (siehe Definition im Folgenden). Der Aspekt der Diversität muss ernst genommen werden, ist keine vorrübergehendes Projekt, dass mit einer Checkbox abgehakt werden kann, sondern ein Queerschnittsthema und durchgängiger Prozess, der die Diversifizierung (mindesten 30 % = kritische Masse) der jeweiligen Institution auf allen Ebenen (auch der Führungsebene) zum Ziel hat. Der Gefahr der Reproduktion von Stereotypen, Klischees, und vor allem dem ‚Akteur*innen-und-artists-of-colour-shopping‘, dem Tokenism (= Maskottchen einladen und denken, damit wäre dem Anspruch an Vielfältigkeit entsprochen) muss ständig kritisch begegnet werden. Die Anwendung des amerikanischen DEIB Modells für erweiterte Diversifizierung kann hier ein ‚Belonging‘, eine Dazugehören von BIPoC Mitarbeitenden garantieren.
Die Museumsdefinition von ICOM von 2022 lautet folgendermaßen:
“A museum is a not-for-profit, permanent institution in the service of society that researches, collects, conserves, interprets and exhibits tangible and intangible heritage. Open to the public, accessible and inclusive, museums foster diversity and sustainability. They operate and communicate ethically, professionally and with the participation of communities, offering varied experiences for education, enjoyment, reflection and knowledge sharing.”
“Ein Museum ist eine gemeinnützige, dauerhafte Einrichtung im Dienste der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Offen für die Öffentlichkeit, zugänglich und integrativ, fördern Museen Vielfalt und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und unter Beteiligung von Gemeinschaften und bieten vielfältige Erfahrungen für Bildung, Vergnügen, Reflexion und Wissensaustausch.”
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Dieser Artikel ist Teil einer Publikation, die 2023 vom In-Haus e.V. veröffentlicht wurde. Für weitere Informationen und um dieses Projekt einzusehen, klicken Sie hier.