Senthuran Varatharajah
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Alles zeigt uns –
unsere eigene Gestalt. Am 1. November 1755, um 9:40 Uhr, an Allerheiligen, am Tag, an dem der verherrlichten Glieder der Kirche, die schon zur Vollendung gelangt sind, gedacht wird, der bekannten wie auch der unbekannten, wurde Lissabon fast vollständig zerstört. Das große Erdbeben von Lissabon, wie es in den Geschichtsbüchern später genannt wurde, spaltete erst den Boden, die Erde und den Stein, bevor die Stadt zu brennen anfing. Am Hafen wich das Meer zurück, so weit, dass die Reste, das, was das Wasser zurückließ, sichtbar geworden war; das beschädigte Holz und die in einer handvoll Minuten nutzlos gewordenen Schiffe, die Ware aus den portugiesischen Kolonien und die Wracks von dem, worin sie einmal lagen: auf dem Seeboden, verstreut. 40 Minuten nach dem Erdbeben überflutete ein Tsunami die Stadt. Von den 275.000 Einwohner*innen Lissabons starben an diesem Tag 30.000 bis 100.000. Dieses Erdbeben war ein Bruch. Es verlangte eine andere Antwort auf die Frage nach der Theodizee, also nach der Güte und Gerechtigkeit Gottes, als die, die Leibniz ihr 1714 in seiner Monadologie gab, und die die Philosophie in den 41 Jahren danach bestimmte. Leibniz bezeichnete unsere Welt als die beste aller möglichen Welten; keine andere Welt sei mit Gottes unendlicher Weisheit und Allmacht vereinbar. Diese Antwort schien jetzt, da eine europäische Stadt, zumal eine streng katholische, von der aus das europäische Christentum in den portugiesischen Kolonien verbreitet wurde, an einem christlichen Feiertag von einer Naturkatastrophe beinahe ausgelöscht worden war, ihre Plausibilität verloren zu haben. Nur Europa konnte daran glauben, dass diese Welt, in der wir leben, die Welt, die Europa nach seinem Willen und nach seinem Ebenbild erschaffen hat, die bestmöglichste sein muss; bis Europa nicht mehr daran glaubte. Bis Europa zu zweifeln begann. Der Gott Europas – hat Europa verlassen. Der Gott Europas – war ein Gott der Gewalt. Der Gott Europas – ist ein Monstrum.
Eine Monstranz ist ein liturgischer Gegenstand, in dessen Fensterbereich eine konsekrierte Hostie, das Allerheiligste, bei Gottesdiensten und Prozessionen der katholischen Kirche gezeigt wird. Das Wort Monstranz leitet sich vom lateinischen Verb monstrare ab: zeigen.
Alles zeigt uns –
unsere eigene Gestalt. Am Ufer des Tejo stehen 56 Meter Stein: das Padrão dos Desco-brimentos, das Denkmal der Entdeckungen, das 1960, zum. 500. Todestages von Heinrich dem Seefahrer, der durch seine Reisen entlang der westafrikanischen Küste die portu-giesische Kolonialherrschaft begründete, von dem faschistischen Diktator António de Oliveira Salazar errichtet worden war. Von hier aus verließen die Schiffe das Land, um Handel zu betreiben, um zu Missionieren, zu Versklaven, zu Töten. Die portugiesische Eroberung des Königreichs Jaffna zum Beispiel erfolgte 1505, nachdem portugiesische Händler in das rivalisierende Königreich Kotte im Südwesten des heutigen Sri Lankas gelangt waren. Von 1597 bis 1658 gehörte Sri Lanka dem Königreich Portugals. In die-ser Zeit zerstörten die Portugiesen alle Hindutempel und die Saraswathy Mahal Biblio-thek in Nallur, in der alle literarischen Werke des Königreich Jaffnas aufbewahrt word-en waren. Die Bevölkerung Jaffnas wurde dem portugiesischen Chronisten Fernao De Queiros zufolge während dieser Epoche der Kolonialisierung, auf die 290 Jahre nieder-ländische und britische Kolonialherrschaft folgten, auf das äußerste Elend reduziert. Wo einmal Tempel standen, wurden Kirchen gebaut; die Steine warfen sie in den indischen Ozean. Der Reichtum Portugals wurde auf den Körpern brauner, Schwarzer und indi-gener Menschen errichtet. Auch in Lissabon erzählt alles davon. Alles in Lissabon zeigt darauf. Jeder Gegenstand ist auch dort materialisierte und verdichtete Geschichte. Eine der wenigen Kirchen, die nach dem großen Erdbeben in Lissabon noch stand, war die Catedral Sé Patriarcal, die Kathedrale des Patriarchats von Lissabon.
In ihr steht, hinter Panzerglas, eine 17 Kg schwere und 90 cm hohe Monstranz, die von König Joseph I. in Auftrag gegeben worden war, und die bis heute als ein Meisterwerk der portugiesischen Schmiedekunst gilt. Sie besteht vollständig aus Gold und wird von mehr als 4100 Edelsteinen, Diamanten, Saphire, Rubinen und Smaragde verziert. Das Gold stammt aus Sri Lanka, die Edelsteine aus weiteren portugiesischen Kolonien, aus dem heutigen Mozambique, aus dem heutigen Angola, aus der Gegend, die heute Brasilien genannt wird. Das Erdbeben beschädigte auch diese Monstranz; in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde sie repariert und in Gottesdiensten wieder verwendet. Die Frage nach der Theodizee, die nach dem Erdbeben von Lissabon von der europäisch-en Philosophie ihrer Zeit anders beantwortet werden musste, wurde keineswegs falsch gestellt, aber von den falschen falsch beantwortet. Es ist richtig: wie konnte ein gütiger und gerechter Gott eine Zerstörung von diesem Ausmaß in seiner unendlichen Weis-heit und Allmacht an Allerheiligen zulassen? Aber wir müssen weiter fragen; nachdem, was zeitlich vor dem Erdbeben lag, und was nach dem Erdbeben immer noch gleich blieb: Was für einen Gott hat sich Europa vorgestellt? Warum ist niemand auf die Idee gekommen, dieses Erdbeben vielleicht als eine Form der Strafe zu verstehen, für das, was Portugal Schwarzen, braunen und indigenen Menschen angetan hat? Was für ein gerechter und gütiger Gott will mit liturgischen Gegenständen angebetet werden, die mit ihrem Blut bezahlt worden sind? Wie konnte Gott in seiner Allwissenheit und Allmacht ihre Missionierung, ihre Versklavung und Ermordung zu lassen? Was für ein Ungeheuer hat sich Europa erschaffen? Wir kennen die Antwort. Das Wort Monstranz gibt eine Richtung vor, und eine Verantwortung, die auch Portugal immer noch nicht trägt:
monstrare: zeigen. Monstrum: Mahnzeichen. Monere: warnen. Mahnen. Alles zeigt uns: unsere eigene Gestalt. Alles ist: verdichtete Geschichte und materialisierte Gewalt. Das, hier: das hier ist die schlechteste aller möglichen und wirklichen Welten.
Die Welt, die Europa nach seinem Ebenbild erschuf, und die Welt, die Europa immer weiter erschafft. Wie konnte ein Gott in seiner Güte und Gerechtigkeit, in seiner Macht und Allmacht, in seiner Weisheit und Allwissenheit der europäischen Kolonialisierung der Welt tatenlos zuschauen? Diese Frage der Theodizee bleibt – unbeantwortet. Das Al-lerheilige ist keine zur Schau gestellte konsekrierte Hostie in einer Monstranz, sondern jeder einzelne Mensch. Ihn hat auch Europa entweiht. Alles in Lissabon – zeigt dieses Sakrileg. Alles in Lissabon – zeigt Lissabons koloniale Gestalt.
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Senthuran Varatharajah, geboren 1984, ist Schriftsteller, Philosoph und Theologe. 2016 erschien sein Debütroman Vor der Zunahme der Zeichen im S. Fischer Verlag. Sein zweiter Roman Rot (Hunger) erschien 2022, ebenfalls bei S. Fischer. Senthuran Varatharajah lebt in Berlin.
Kontakt: Instagram: @svaratharaja | Email: varatharajah@gmx.de
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Dieser Artikel ist Teil der Publikation: “Guide Zur Dauerausstellung Des Rautenstrauch-Joest-Museums”, Weitere Infos und die vollständige Publikation finden Sie hier: Guide Zur Dauerausstellung Des Rautenstrauch-Joest-Museums